Wie hell die Stadt nachts ist, wird mir erst jetzt bewusst, wo ich mit der Kamera Nachtfenster suche. Ich bin per Rad unterwegs zur 3-Uhr-Schicht und etwas früher losgefahren als sonst, um beleuchtete Fenster in dunklen Hausfassaden zu fotografieren. Fenster, denen man ansieht, das dort keine Deckenleuchte das Licht spendet und wo mitunter das Geflacker von Fernsehbildern die einzige Beleuchtung ist. Die empfindliche Kamera lässt die sanft erhellten Fenster viel heller erscheinen, als sie in meiner Wahrnehmung sind. Erst die Morgendämmerung bringt ein Bild hervor, auf dem die Helligkeiten stimmen.
Knapp 20% der Bevölkerung Berlins, also rund 700 000 Menschen sind 65 Jahre und älter. Mehr als die Hälfte davon lebt allein. Wie viele davon sind um diese Zeit kurz vor drei Uhr nachts wach? Drei Uhr, das ist Nierenzeit, sagt eine Freundin, die Heilpraktikerin ist. Da selektiere der Körper, was letztlich ausgeschieden werden muss. Dinge, die „an die Nieren“ gehen. Was Wunder also, dass diese dunkle, stillste Zeit der Nacht für so manche zur Grübelzeit wird, wo im Wirbel des Gedankenkarussels die kleinen und großen Fragen des Alltages in unfassbar beängstigenden dunklen Schlieren verschwimmen. Vergleiche ich die Zahl der Nachtfenster mit den dunklen, sind es weit weniger als jedes zehnte. Die Vermutung liegt nahe, dass hinter diesen halbhellen Quadraten ein guter Teil derer auf Schlaf wartet, die auch tagsüber wenig mehr als das Verstreichen von Zeit erleben. Menschen, die am Tage – vielleicht – noch die Möglichkeit zu flüchtigen Kontakten auf der Straße oder beim Einkauf haben, zum Schwatzversuch mit der Apothekerin, die anderes zu tun hat, oder mit dem Doktor, der auf das Reden über Diagnosen und Therapien ausgerichtet ist. Oder Menschen, die zweimal täglich vom ambulanten Pflegedienst aufgesucht werden, der abrechenbare pflegerische Dienstleistungen zu verrichten hat, wozu Gespräche eher auch nicht gehören. 60% der Anrufe bei der englischen Silver Line erfolgen nachts und am Wochenende. Nachtfenster sind Bilder dafür. Jährlich ein Euro pro schlaflosem Älterem würde sichern, dass da jemand vom Silbernetz wäre, um mit ihm oder ihr zu reden und das Gedankenkarussel zu stoppen. ES
Günter
8/5/2016 18:02:59
Mensch Elke, was für ein schöner Text! Trotz aller Sachlichkeit mit soviel tiefgehender Wärme. Für diesen Beitrag: Fühl dich umarmt - besonders fest! Kommentare sind geschlossen.
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