Ein Plädoyer für Vielfalt anlässlich des Internationalen Tages der älteren Menschen
von Elke Schilling „Ich gehe doch in keine Seniorenbegegnungsstätte – da sind bloß alte Leute und die reden nur über Krankheiten“ – dieses Vorurteil hält viele Ältere ab, dorthin zu gehen, wo sie Menschen ihres Alters treffen, wo sie Kontakte aufbauen und kreativ sein könnten mit gemeinsamen Unternehmungen, geteilten Interessen, Interaktionen. Wo sie erfahren können, was es sonst noch gibt für Menschen ihrer Prägung, welche Angebote, Beratungen, Informationsquellen, Chancen, selbst aktiv zu werden, vorhanden sind oder ausgebaut werden können. Wo es offene Orte geben kann für Treffen und gemeinsame Erkundungen, Planungen und Aktivitäten, die jenseits des Grundangebotes der jeweiligen Begegnungsstätte den eigenen Bedürfnissen und Möglichkeiten entsprechend gestaltet werden können. Jeder Mensch ist anders Das Bild der „Alten, die nur über Krankheiten reden“ beschreibt, wie die meisten Stereotype, ein tatsächlich vorhandenes, ziemlich normales Phänomen, das in seiner Verallgemeinerung äußerst wirksam den Blick auf die reale Vielfalt der Älteren verstellt. Selbst multimorbide Menschen haben oft Interessen, denen möglicherweise mit einem oder mehreren anderen in guter Gesellschaft nachgegangen werden kann. Gerade von ihnen berichten Forscher*innen mit leichtem Erstaunen, dass sie mitunter ausgesprochen heiter ihr eigenes Wohlbefinden sehr viel positiver darstellen und erleben, als das ihre zahlreichen Diagnosen und tatsächlichen Leiden vermuten lassen. Es sind diese Vermutungen und Zuschreibungen, die letzten Endes beide Seiten – Multimorbide und mögliche anders geartete Menschen daran hindern, gemeinsam zu erkunden, was da sonst noch gehen könnte, weit über die Kommunikation von alters- oder krankheitsbedingten Einschränkungen, Leiden und Therapien hinausgehend. Nach einem langen Leben ist da immer viel Erfahrung, Wissen, Interesse, Neugier, die zu teilen sich lohnen, was in der gemeinsamen Erkundung und Entwicklung weiterführen kann. Oder woher sonst kommt die Trauer, wenn man mit zunehmenden Jahren immer weniger Altersgefährt*innen findet, mit denen Austausch auf einem ähnlichen Level von Lebensgeschichte und -Erfahrungen möglich ist? „Oh, ich hätte schon gern einen Menschen reiferen Alters als Silbernetz-Freund*in, da muss ich nicht so viel erklären und wir können Geschichten teilen“. Das ist der Wunsch, den unsere Vermittlerin für die Telefonfreundschaften häufig hört von Menschen, die noch in ihren eigenen vier Wänden leben. Bewohner*innen von Seniorenheimen wünschen sich dagegen eher jüngere Silbernetz-Freund*innen, „Alte habe ich den ganzen Tag um mich, und ich möchte gern wissen, wie es jemand Jungem geht.“ Stereotyp – was ist das? Stereotype sind Annahmen, Vorurteile, Erfahrungsmuster, die helfen, Komplexität zu vermindern. Sie können helfen, zu überleben, weil man einfach „weiß“, was eine angemessene Reaktion in einer bestimmten Situation sein könnte. Stereotype werden gesellschaftlich vermittelt, prägen sich von Kindheit ein und stellen quasi automatisch bei entsprechender Gelegenheit Verhaltensmuster und Reaktionen zur Verfügung. Sie können damit Sicherheit verleihen oder unfassbar einengen, Individualität ausblenden. Die allgemein präsenten, schon im Kindesalter verinnerlichten, in der Regel negativen Altersbilder sind in vielerlei Weise solche wirksamen Stereotype. Alter wird gemeinhin verstanden und meist auch erlebt als die Zeit der sukzessiven Verluste und Einbußen. Fruchtbarkeit, physische und mentale Gesundheit, Mobilität und Beweglichkeit schwinden, Kräfte, Sicht und Gehör verschlechtern sich usw. Kurz, irgendwie gerät Alter in die Deutungsmuster von Krankheit und muss präventiv oder therapeutisch behandelt werden. Die Weltgesundheitsorganisation hat seit einigen Jahren einen Diagnoseschlüssel für Alter in ihrer Allgemeinen Klassifizierung für Krankheiten und Todesursachen (ICD). Und dennoch altert jeder Mensch auf sehr eigene Weise, in unterschiedlichem Tempo mit sehr unterschiedlichen Merkmalen. Manche Veränderung kommt früher oder später, manche bleibt aus. Wem nutzt das – Stereotype? Lange bevor man diese Veränderungen erlebt – oder auch nicht – wird die Angst davor gewinnbringend kommerzialisiert. Antifaltencremes, Haarfarben, kosmetische Operationen, Spritzen, Mittel gegen Gedächtnisschwäche, Nahrungsergänzungsmittel, die Liste lässt sich fortsetzen. Ganze Industrien leben davon. Aber auch solche Phänomene, dass ein Mensch jenseits der 80 mitunter automatisch als dement behandelt werden kann, wenn er nach einer belastenden Operation noch nicht wieder im Vollbesitz seiner mentalen Fähigkeiten ist, gehört in die Reihe der Stereotype, die sich situationsbedingt höchst fatal auswirken können. Das Individuum verschwindet hinter dem Vorurteil. „Ageism“ nennen die Amerikaner die Wirkung dieser verinnerlichten negativen Vorurteile, die kulturell bedingt Menschen ab einem bestimmten Lebensalter der Wahrnehmung ihrer Individualität und Vielfalt berauben. Die dafür sorgen, dass viele älter Werdende diesen Übergang mit Ängsten und vielen negativen Erwartungen durchleben oder verleugnen. Studien belegen jedoch, dass eine positive Haltung gegenüber dem Alter das Leben um 7 Jahre verlängert. Altersdiskriminierung ist eine schlechte Übersetzung für Ageism, die diesen Begriff nur ansatzweise trifft. Man wird diskriminiert – strukturell, institutionell und individuell. Man diskriminiert sich jedoch nicht selbst. Zu erwarten, dass man dement wird, weil man einfach hin und wieder mal etwas vergisst (was auch schon in jüngerem Alter immer mal wieder geschah), ist eines von unzähligen verinnerlichten Vorurteilen, ist Ageism. Als Kompliment begreifen zu sollen, dass jemand feststellt, man sei in den letzten zehn Jahren um keinen Tag gealtert, ist in doppeltem Sinn Ageism. Vielfalt ist Reichtum Die schon früh verinnerlichten, meist unbewussten Vorurteile über Alter verstellen den Blick auf die Vielfalt, die in dieser Bevölkerungsgruppe größer ist, als in jeder anderen. Leben heißt Altern und jeder gelebte Tag prägt jeden Menschen auf ganz eigene Weise. Zu den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen von Herkunft, sozialem Status, und anderem, die von allen durchaus unterschiedlich erlebt und verarbeitet werden, kommen all die Erfahrungen, die sich in einem langem Leben anhäufen und einen speziellen Menschen jeweils anders prägen ungeachtet der Jahreszahlen. Niemand gleicht vollkommen irgendjemand anderem. Was in einer Schublade einsortiert wurde, gerät meist in Vergessenheit. Gleich, nach welchem Merkmal das geschieht. Gleich, wer dort einsortiert wird oder nie dort hinauskam. Es ist eng in den Schubladen der als Wahrheit angenommenen Vorurteile. Da ist nicht viel Bewegung möglich. Leben aber ist Bewegung. Es lohnt sich, die Vorurteile über Alter und Alte kritisch auf den Prüfstand zu stellen und genau auf Ursachen und vor allem auf Wirkungen zu überprüfen. Als Gesellschaft oder Organisation ebenso wie als Person. Altern ist Leben, jeder erlebte Tag lässt uns einen Tag lebendig altern. Das heißt immer auch Entwicklung, Veränderung und Vielfalt, ein Kapital, das Jede und Jeder für sich selbst nutzen kann, das aber auch für die anstehenden Veränderungsprozesse in unserer Gesellschaft unverzichtbar ist. Elke Schilling |
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October 2022
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